Da capo – Die Probe oder „Was wir alles können sollen“

Montag Abend…
Im Chor gibt es die Aktiven, die Macher, und die Passiven, die Mitläufer. Es sind immer Dieselben. Erstere transportieren und montieren Podien, kleben Plakate, stellen Stühle auf, auf die sich letztere, 5 nach 8 reingeschlüpft, dann schnell setzen. Der angestammte Platz wird eifrig verteidigt: man singt ja schließlich schon 10 Jahre und mehr auf dem gleichen Stuhl, neben dem gleichen Nachbarn. Es erleichtert im Übrigen auch dem Dirigenten die Orientierung: er weiß gleich in welche Richtung er seine strafenden Blicke senden muss! Nur im Konzert wird man etwas flexibler. Da geht es dann um Körpergröße, um Blickkontakt zum Dirigenten und darum, dass man einen guten Sänger entweder unmittelbar neben oder hinter sich weiß.
Aufstehen zum Einsingen…
…nicht unbedingt beliebt, aber unerlässlich zum Schmieren der Stimmen, beginnend mit he-he-he und A-i-i-da und endend mit einer Rutschbahn vom ganz hohen Diskant bis in den tiefsten Keller.
Setzen…
…das Gequatsche beginnt: ein neues Werk. Wir halten sie in den Händen, die unbekannten Noten, noch jungfräulich rein, ausgewählt nicht etwa durch einen demokratisch legitimierten Mehrheitsbeschluss, sondern aufgrund einer einsamen Entscheidung unseres Chefs: schließlich weiß er allein ums Machbare. Die Soprane schielen nach den hohen Tönen: Wer hat Angst vorm hohen A? Die Tenöre danach, wie oft ihre Stimme geteilt und sie quasi solistisch auftreten müssen.

Zitate
„Pst, pst, Ruhe! Bitte nicht reden, wenn ich rede!“
Es geht los…
…„Gar ned schlecht, aber noch a bissl Verhau halt! Die Damen bitte auseinandergenommen. Sehr schönes A im Sopran, diesmal habt Ihr überraschender Weise keine Angst vor dem hohen A gehabt!“
„Wirklich gar ned schlecht, Klasse. Es hängt nur noch an den entscheidenden Stellen!“
„Die Damen bitte. Nein, nicht so reinbrettern, so trompeten! Da biegt’s einem ja die Zehennägel auf!“
„Noch mal. Der Sopraneinsatz war nix. Ganz normal segeln, nicht mit der Keule, weniger dick, entspannter! Wenn Ihr große Töne produzieren wollt, seid Ihr schon weg vom Fenster!“
„Noch mal von Anfang! Nein, legato, nicht atmen (fast wie beim Röntgen: nicht mehr atmen, bitte!). Es kommen immer Bröseleien zustande, wenn Ihr länger als zwei Takte durchhalten müsst. Scheibchen singt Ihr! Ich brauch’ ein Maul voller Töne! Kein Gesäusel, und sich vor dem Nachbarn verstecken!“
„Noch mal von vorn! Nein, nicht so reinpfeffern. Kein hö-hö-hö singen. Ich hab’ das nur so exaltiert vorgemacht, damit Ihr überhaupt reagiert! Ich möchte Euch lieber kitzeln als bremsen!“
„Nein, ich war viel flüssiger als Ihr. Ihr grabt Euch doch selber das Wasser ab! Oh Gott nein, die Absprache! Ihr zischt das s-s-s über zwei volle Takte!“
„Nein, nicht so. Traut Euch, Euch auf meine Rührbewegungen einzulassen!“
„Noch mal. Pst! Bitte nicht reden, wenn ich rede. Gerade sitzen! Auf der Stuhlkante!
Noch mal, alle.
„Super, aber die Damen brüllen schon wieder. Bitte macht mir meine Männerstimmen nicht zur Sau!“
„Nein, noch mal, ich sag’s so oft, bis Ihr’s geschnallt habt.“

Und das halten wir nun schon 10 volle Jahre aus – nicht zu glauben!
Aber mit dem Quäntchen Masochismus, das wohl jeder Sänger hat und vor allem mit der Begeisterung für die Musik, für unseren Chor und unseren Konstantin schaffen wir das auch noch länger. Der hat’s ja zu Beginn schon gesagt: „Ich weiß, dass das Stück ganz toll wird, auch wenn Ihr’s jetzt noch nicht glaubt!“

Nun zum Konzert, hehres Ziel und Höhepunkt all unserer Bemühungen.
Der Auftritt oder woran wir noch arbeiten müssen – wie in der antiken Tragödie schreitet der Chor mit schwarzen Mappen und dunklem Gewand, von blauen Tüchern nur mäßig erhellt, dem Podium entgegen. Dort verliert er etwas an Würde. Wenn der mühevolle Aufstieg auf eben dieses beginnt, mehr oder weniger elegant, je nach Alter und Fitness. Oben angekommen, ist’s dann mit der Würde ganz vorbei: es beginnt eine lebhaft Unterhaltung, letzte Positionswechsel und neckisches Winken ins Publikum. Erst der feierliche Auftritt von Solisten und Dirigenten bereitet diesem fröhlichen Treiben ein plötzliches Ende. Konstantin zwinkert seinem Chor noch einmal aufmunternd zu, dann – mit dem ersten Ton – reißt der Blickkontakt jäh ab: die Augen der Sänger versenken sich sehr konzentriert in die Noten und bleiben da bis zum letzen Ton.
Applaus. Die Anspannung löst sich langsam, Konstantin blinzelt wieder, erleichtert, freundlich. Der Chor wird von neuem lebendig, ratscht, klatscht mit, wirft Kusshändchen ins Publikum. Wenn genug applaudiert, Dirigent und Solisten ihre Vorhänge und Blumen bekommen haben, folgt der Abgang. In fröhlicher, chaotischer Unordnung klettert und plumpst man vom Podium, mischt sich mit dem Publikum. Der Chor hat sich aufgelöst, hat seine Schuldigkeit getan. Nach der erwartungsvoll-bangen Frage an Konstantin: „Wie waren wir?“ und seiner Zusicherung “recht gut“, geht man – je nach Kondition und Temperament – zufrieden nach Hause oder noch einen trinken.
…aber, der Montag danach, die erste Chorprobe!

Manöverkritik oder „Was wir alles einstecken müssen!“
Am Morgen hat man schon nach einer Kritik in der Zeitung gesucht. Vergeblich. Es wird gemunkelt, der dafür vorgesehene Schreiber musste an diesem Abend zur Jahreshauptversammlung des Kaninchenzüchterverbandes. Ist ja auch wichtig, oder? Also, die Manöverkritik: scheibchenweise kommt sie gebröselt: die Wahrheit, die ganze schreckliche Wahrheit von Konstantin Gnadenlos:
„Hier der Einsatz verpatzt, da die Absprache vermurkst. Die Textverständlichkeit, eine Katastrophe! Dann sein, Konstantins Empfinden totaler Ohnmacht angesichts eines Chores, der ihn während des ganzen Konzertes keines Blickes würdigt! Und das Engagement, das musikalische Feuer: null! Wir sitzen nicht mehr auf der Stuhlkante, nicht mehr aufrecht. Wir sitzen zusammengesunken, möchten uns im nächsten Mauseloch verstecken. Die ganze Euphorie dort oben auf dem Podium auf einmal verflogen, vergessen der Beifall der begeisterten Zuhörer. Angesichts dieses jämmerlichen Häufleins, das da völlig zerknirscht in den Stühlen hängt, überwältigt unseren Konstantin schließlich doch das Mitleid: er lenkt ein, relativiert:
Doch, da waren natürlich auch große Momente, gelungene Passagen, grandiose Chöre voller Musikalität. Wir richten uns auf, sitzen wieder auf der Stuhlkante. Das Lächeln kehrt zurück.
Natürlich, wir machen weiter, weil’s so schön ist: das Singen in unserem Chor!
Viele Jahre noch: da capo!

von Ingrid Burkart

Das schreibt die Presse: